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09 Feb
09Feb

Im bunten Reigen der Zeitdiagnosen gibt es ein Phänomen, das immer wieder genannt wird: Narzissmus. 

Der anthropogen verstärkte Klimawandel wird dabei als die vierte narzisstische Kränkung der Menschheit angesehen. 

Doch der Reihe nach: zunächst die kosmologische Kränkung, die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, dann die biologische Kränkung, die mit der Entdeckung der Evolution und Charles Darwin verbunden ist, als drittes dann die Erkenntnis der Psychoanalyse, dass wir nicht komplett über unser Seelenleben bestimmen können. Für Freud sind manche Erkenntnisse so bestürzend, dass das Selbstbild ins Wanken gerät, der Selbstschutz liegt dann darin, diese Erschütterung zu bekämpfen (Klimawandel leugnen), zu ignorieren (wird schon nicht so schlimm) oder zu fliehen (wo ist die zweite Erde?). 

Nun, wie sieht es aber im Individuellen aus? 

Eine Zunahme des Phänomens Narzissmus wird gerne konstatiert, teilweise wissenschaftlich zu belegen versucht. So zeigte Jean Twenge 2013 in einer Studie, basierend auf den Ergebnissen des „Narcissistic Personality Inventory“ (NPI) der USA aus den Jahren 1982 bis 2006 dass heutige Studierende narzisstischer sind als frühere Generationen. 

Gibt es weitere Anzeichen, die diese Gegenwartsdiagnose stützen könnten – Narzissmus als (drohende) Epidemie? 

Einerseits das kulturpessimistische Lamento im Gestus der Kapitalismuskritik: Leistungsimperative, Konkurrenzdruck, Wachstum, Konsumrausch, Reizüberflutung usw. - der Spätkapitalismus gebäre eine narzisstische, kranke Gesellschaft, da das Individuum überfordert wird. Und natürlich social media, wo ein Maß an Selbstdarstellung eingefordert wird, das historisch bislang ohne Beispiel ist. 

Nun, tatsächlich ist eine Verlässlichkeit zu wissen, wo die eigene Stellung im Kosmos ist und damit eine Lebenssicherheit, verlorengegangen. Denn traditioneller Bindungen an Institutionen haben sich aufgelöst; auch dies leistet einer Vereinzelung der Gesellschaft Vorschub. Diese Individualisierung von Gesellschaften zeigt sich auch in einer zunehmenden Anzahl von Singlehaushalten und anhaltend hohen Scheidungsraten. Zwischenmenschliche Beziehungen verlieren Dauerhaftigkeit werden zunehmend zu seriellen Beziehungen. 

https://www.blognatur.com/majos-blog/happy-singles-day-zwischen-beziehungsangst-und-verlust 

An Bindungsverluste ist eine Sinnkrise gekoppelt, die zu einer persönlichen Verunsicherung führt und dazu, das eigene Selbst immer im Spiegel anderer zu betrachten. Unsicherheit gepaart mit dem permanenten Streben, die äußere Hülle mit beruflichem Erfolg und Statussymbolen zu polieren, kann eine innere Leere nicht füllen und narzisstische Anlagen, die ein jeder hat, in einem Ausmaß verstärken, dass es psychopathologisch werden kann. Der eigene Selbstwert muss ständig reguliert werden, um das Selbstbild zu schützen; diese Selbstaufwertung ist jedoch mit einer Abwertung anderer verbunden. Dieses Selbst lebt ständig auf Kosten anderer. 

Der grandiose Narzissmus eines Donald Trump ist uns allen vor Augen, denken wir an den Begriff „Narzissmus“, dies verbunden mit einem malignen, manipulativen, maladaptiven Verhalten. 

Doch es gibt auch eine gleichsam versteckte Variante; den vulnerablen Narzissmus. Sehr sensible Menschen, denen man diesen Charakterzug kaum anmerkt, der sich jedoch in dysfunktionalen Beziehungsmustern erhellt. Die äußere Hülle ist äußerst verletzlich und auf ständige Bestätigung und Bewunderung von außen angewiesen, um eine innere Leere zu kompensieren. Auch hier treten die klassischen Merkmale in Erscheinung: Egozentrik, eigene Empfindlichkeit, Entwertung anderer und Empathiearmut. Empathiarmut meint, dass Narzissten zwar Gefühle anderer wahrnehmen und auch deuten können (das ist erlernt und Nachahmen ist eine große Kunst von Narzissten), sie können diese aber nicht nachempfinden. 

Im Miteinander mit unserer Mitwelt ist jedoch Empathiearmut oder gar ein Mangel an Empathie, ein Wesensmerkmal, das die ökologische Krise weiter zuspitzt. Wenn im Zwischenmenschlichen ein eigentlich leeres und schwaches Selbst sich ins Zentrum rückt, die menschliche und nichtmenschliche Mitwelt zum bloßen Zuträger von Ressourcen aller Art wird, schwindet das Engagement für andere mitfühlend einzutreten. 

Wie jedoch lässt sich Empathiearmut überwinden? 

Oder gibt es Möglichkeiten auf einer gesellschaftlichen Ebene, narzissmusfördernde Faktoren einzuhegen? 

JR

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