Marion
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15 Nov
15Nov

Die Klimakonferenz in Belém 2025 bietet ein Bild, das zugleich tragisch und absurd wirkt: Vertreter der Industrienationen – historisch verantwortlich für den überwiegenden Teil der globalen Emissionen – reisen in ein Land, dessen Regenwälder seit Jahrhunderten die planetare Klimastabilität mitgetragen haben, nur um dort Forderungen zu stellen, die an moralischer Verkehrung kaum zu überbieten sind. Der Konferenzort im Amazonasgebiet legt diese Absurdität bloß wie ein Brennglas: Diejenigen, die am meisten genommen haben, formulieren Bedingungen an diejenigen, die seit jeher schützen mussten. 

Zunächst ist da die rhetorisch elegante, aber praktisch folgenlose Forderung nach „ambitionierteren Schutzmaßnahmen“. 

Aus dem Mund der Industrienationen klingt dieser Appell wie ein höflich verpackter Imperativ: Bitte rettet die Wälder, die wir durch unseren historischen Wohlstand erst in diese prekäre Lage gebracht haben – und zwar schnell. Die moralische Last wird elegant verschoben: Nicht mehr die jahrhundertelange Emissionsexzesse der Globalen Nordens stehen im Vordergrund, sondern die vermeintliche Unfähigkeit des Südens, seine Ökosysteme zu schützen.

Damit entsteht ein merkwürdiger Doppelstandard. Die gleichen Staaten, die ihre eigenen Wälder längst zugunsten industrieller Expansion geopfert haben, instruieren heute Länder wie Brasilien darin, „Verantwortung“ zu übernehmen. Das Wort „Verantwortung“ schwebt dabei wie ein moralisches Gespenst im Raum – eines, das stets den Falschen erscheint. Der Amazonas wird zur globalen Ressource erklärt, aber die historischen Verursacher bleiben in Besitz ihrer industriellen Privilegien.

Besonders absurd wird es, wenn die Industrienationen im selben Atemzug auf „marktwirtschaftliche Lösungen“ drängen: Emissionshandel, Waldzertifikate, CO₂-Kompensation. Das bedeutet übersetzt: Die Zerstörungskraft der Industrialisierung soll durch ein Finanzinstrument neutralisiert werden, das wiederum von jenen kontrolliert wird, die am meisten profitiert haben. Der Wald wird zur Ware, indigene Gebiete zu handelbaren Einheiten, und moralische Verantwortung zu einer Frage des Kapitalflusses. Ein indigener Aktivist formulierte es sinngemäß so: „Sie wollen unsere Bäume, aber nicht unsere Stimmen.“

Diese ökonomische Logik bettet sich in ein zweites absurdes Element ein: Die Industrienationen verlangen von Brasilien und anderen Ländern des Globalen Südens klimafreundliche Entwicklungspfade – während sie selbst ihren Wohlstand über genau jene Pfade aufgebaut haben, die heute als mitschuldig am Klimakollaps gelten. Es ist, als hätte jemand die Leiter hinaufgeklettert, sie dann eingezogen und anschließend verkündet, niemand solle jetzt noch Leiter verwenden. Der moralische Anspruch wird dadurch ineffizient, ja grotesk: Fortschritt ja – aber bitte in einer Form, die die historische Schuld der Industrienationen unangetastet lässt.

Die vielleicht auffälligste Absurdität aber zeigt sich im Umgang mit den indigenen Gruppen, die in Belém protestieren. Während auf den großen Bühnen der Konferenz von „Partizipation“, „Inklusivität“ und „People-Centered Climate Action“ gesprochen wird, müssen indigene Delegationen buchstäblich um Zugang kämpfen. Die Hüter des Waldes – jene, die empirisch nachweislich die niedrigsten Abholzungsraten und die höchste Ökosystemresilienz garantieren – werden zu Randfiguren, sobald politische und ökonomische Interessen der Industrienationen ins Spiel kommen. Die Diskrepanz zwischen symbolischer Anerkennung und realer Mitsprache offenbart eine kolonial anmutende Kontinuität: Die Natur darf sprechen, aber nur, wenn sie die Sprache der großen Delegationen spricht.

Gerade in Belém wird somit sichtbar, was die Diskussion im Kern durchzieht: Die Industrienationen agieren, als befänden sie sich in der moralischen Position eines Schiedsrichters, nicht eines Mitverursachers. Ihre Forderungen ignorieren die historische Verantwortung, vernachlässigen die strukturelle Ungleichheit und bedienen sich eines diskreten, aber wirkmächtigen Narrativs: Wir wissen, was gut für das Klima ist – und für euch. Dass diese Selbstgewissheit ausgerechnet im Amazonas vorgetragen wird, macht den Widerspruch nur noch sichtbarer.

Die Absurdität der Forderungen besteht nicht darin, dass sie „falsch“ wären. Waldschutz ist notwendig, Emissionsreduktion unverhandelbar. Das Absurde besteht darin, wer diese Forderungen erhebt und wie dabei Machtverhältnisse unsichtbar gemacht werden. Es ist das moralische Paradoxon eines globalen Systems, das Gleichheit predigt, während es Ungleichheit institutionalisiert.Wenn die Industrienationen wirklich glaubwürdig sein wollen, müssten ihre Forderungen anders klingen: weniger gebieterisch, weniger technokratisch, weniger auf Erhalt der eigenen Vorteile bedacht. Sie müssten anerkennen, dass Verantwortung nicht delegiert werden kann, während die Profite bestehen bleiben. Und vor allem müssten sie akzeptieren, dass diejenigen, die den größten Anteil am Erhalt der Natur haben, auch den größten Anteil an den Entscheidungen erhalten.Solange das nicht geschieht, bleibt die Klimakonferenz ein Schauplatz moralischer Paradoxien: ein Ort, an dem über globale Gerechtigkeit gesprochen wird – nur selten von denen, die sie am dringendsten einfordern.


MF

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